Im Gespräch mit einem Migrationsforscher
Wir haben mit Professor Dr. Jochen Oltmer über die wichtigsten Fragen rund um Migration gesprochen.



Wir haben mit Professor Dr. Jochen Oltmer über die wichtigsten Fragen rund um Migration gesprochen. Er ist unter anderem seit 1995 Mitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) und zählt zu den renommiertesten Experten auf diesem Gebiet. Im Interview wirft der Migrationsforscher einen Blick über den Tellerrand in andere Länder, skizziert die größten Herausforderungen und teilt mit uns seine Einschätzung, wie sich das Thema in den nächsten Jahren entwickeln wird.
Woher stammt bei Ihnen persönlich die Faszination für das Thema „Migration“?
Mit dem facettenreichen und komplexen Thema Migration verbindet sich für mich eine wissenschaftliche Faszination: Sobald man sich dem Gegenstand nähert, entdeckt man sehr schnell, dass es keinen gesellschaftlichen Bereich gibt, der nicht mit migrationsbezogenen Aspekten verknüpft und verquickt ist. Und die Thematisierung ändert sich ständig, weil Gesellschaften dauernd neu aushandeln, was sie unter Migration verstehen und mit welchen Bedeutungen sie Migration aufladen. Das alles ist aus der Beobachterperspektive eines Wissenschaftlers hochspannend.
Welche Felder bzw. Themen betrachtet Ihr Gebiet der Migrationsforschung?
Als Migrationshistoriker ist es meine Aufgabe, Langzeitbeobachtungen von Gesellschaften anzustellen, die – natürlich auch im Zeitverlauf – auf unterschiedliche Weise mit dem Thema Migration umgegangen sind und umgehen. Es gilt, alles andere als einfach zu beantwortende Fragen zu klären wie: „Warum wandern Menschen? Hat sich an den Gründen für die Bewegungen im Laufe der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhundert etwas geändert? Warum werden Migrationen auf welche Weise problematisiert oder ignoriert? Oder: Warum steht das Thema gegenwärtig ständig im Fokus öffentlicher, politischer und medialer Auseinandersetzungen?
Mit Blick auf die Historie: Wann und wie hat die Integration von ausländischen Arbeitskräften in Deutschland zuletzt gut funktioniert?
Eine einfache Antwort lässt sich auf diese Frage nicht finden: Der Begriff »Integration« verweist auf die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen in verschiedenen Bereichen, darunter der Arbeitsmarkt. Die Frage wäre also aus einer historischen Perspektive: Hatten Eingewanderte die gleichen Chancen, am Arbeitsmarkt teilzuhaben, wie Einheimische. Und die Antwort wäre: Nein, eher nicht. Ein Beispiel: Deutschland ist das Land der Zeugnisse. Über viele Jahrzehnte war es faktisch nicht möglich, im Ausland erworbene Qualifikationen, wie etwa eine Berufsausbildung oder ein Studium, in der Bundesrepublik anerkennen zu lassen. Erst das neue Anerkennungsgesetz von 2012 hat einen gewissen Wandel mit sich gebracht, geht aber immer noch nicht weit genug. Und es gibt noch viele weitere Punkte, die hinzutreten: Sehr häufig war der Aufenthaltsstatus von Eingewanderten befristet, was der Arbeitsmarktintegration nie förderlich war. Meist wurden sie in Lohngruppen beschäftigt, die weniger gut dotiert waren, kamen bei Qualifizierungsmaßnahmen nicht zum Zuge.
Integration muss man sich als langfristigen Prozess vorstellen, wir reden also eher über Jahrzehnte und Generationen als über Jahre. Auch wenn wir ausmachen können, dass der sogenannten Zweiten Generation der Eingewanderten die gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt besser gelingen konnte, wissen wir doch, dass selbst unter ihnen nur recht wenige eine echte Gleichstellung erreichten – sie waren gewissermaßen „unwahrscheinlich erfolgreich“ im Sinne von: Bei manche klappte wider Erwarten die Arbeitsmarktintegration reibungslos.
Mit Blick auf die Gegenwart: Wie funktioniert heute gelungene Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Menschen?
Die vorliegenden Zahlen zeigen: Die ersten Jahre nach der Ankunft sind mit Blick auf den Einstieg in den Arbeitsmarkt schwierig, nicht zuletzt wegen des Mangels an deutschen Sprachkenntnissen. Aber: Im Vergleich zu vorangegangenen Fluchtbewegungen haben insbesondere die Schutzsuchenden, die um 2015 in die Bundesrepublik kamen, nach einigen Jahren Aufenthalt – zumindest, was die Männer angeht – zu einem hohen Anteil den Zugang zum Arbeitsmarkt geschafft. Aktuelle Zahlen weisen darauf hin, dass schutzsuchende Männer, die sich seit acht oder mehr Jahren in Deutschland aufhalten, eine höhere Erwerbquote haben als Männer im Durchschnitt. Bei Frauen gilt das allerdings nicht, ihre Quote liegt erheblich niedriger.
Im Vergleich zu den Jahrzehnten zuvor, haben wir es seit vielen Jahren mit einer günstigen Situation am Arbeitsmarkt zu tun, der Mangel an Arbeitskräften, insbesondere an Fachkräften lässt sich überall beobachten, das hat auch Folgen für die Beschäftigung von Schutzsuchenden. Allerdings: Weiterhin bleibt die Anerkennung von aus dem Herkunftsland mitgebrachten Qualifikationen eine Herausforderung. Viele Schutzsuchende sind unterhalb des mitgebrachten Ausbildungsniveaus beschäftigt.
Mit Blick auf das Ausland: Welche anderen Ansätze werden in der EU erfolgreich verfolgt und was kann Deutschland daraus lernen?
Diskussionen zu diesem Thema gab es zuletzt vor allem im Blick auf Schutzsuchende aus der Ukraine: Hier zeigte sich, dass die Erwerbsbeteiligung in den Nachbarstaaten der Bundesrepublik zum Teil erheblich höher liegt. Vielfach ist das auf niedrigere Sozialleistungen für ukrainische Schutzsuchende, so etwa in Polen oder Tschechien, zurückgeführt worden. Allerdings ist die Erwerbsbeteiligung auch in Dänemark oder Schweden höher, wo die Sozialleistungen für Schutzsuchende keineswegs niedriger liegen als in Deutschland. Deshalb geht die Forschung davon aus, dass es vor allem die bürokratischen Hürden in Deutschland, aber auch beispielsweise in der Schweiz, sind, die über Jahrzehnte im Blick auf Schutzsuchende aufgebaut wurden, die den Arbeitsmarktzugang behindern.
Wie nehmen Sie die Kommunikation in Deutschland über das Thema wahr?
Leider sind Skandalisierungen an der Tagesordnung: Schutzsuchende wollen nicht arbeiten, die Sozialleistungen sind zu hoch usw. Vor wenigen Wochen erst gab es eine Diskussion über eine Arbeitspflicht für Schutzsuchende. Solche Debatten tragen nicht dazu bei, eine sachgerechte Diskussion über die Hürden des Arbeitsmarktzugangs in Deutschland zu führen, weil sehr schnell die Verantwortung für Schwierigkeiten des Arbeitsmarktzugang allein bei den Schutzsuchenden selbst gesucht und gefunden wird.
Wie lässt sich die Situation geflüchteter Menschen auf dem deutschen Arbeitsmarkt konkret verbessern?
Ich denke, die wesentlichen Elemente sind schon genannt: Entbürokratisierung, Schutzsuchende sind in Deutschland über viele Jahrzehnte hinweg mit immer komplexeren restriktiven Regelungen konfrontiert worden, weil es eine Tendenz gab, Asylpolitik vor allem als Abschreckungspolitik zu verstehen. Darüber hinaus: Erleichterte Anerkennung von Qualifikationen. Und außerdem: Nicht nachlassen bei der Sprachförderung, die Sprachkurse noch genauer unter die Lupe nehmen und weiter schauen, wie sie sich verbessern lassen.
Welche Rolle spielen Patenschaften in Zusammenhang mit gelungener Integration?
Patenschaften sind außerordentlich wichtig, weil sie nicht nur den Spracherwerb erheblich erleichtern, sondern auch viele Zugänge zu Behörden ermöglichen, die sich für Neuzugewanderte, die nicht über Netzwerke in Deutschland verfügen, niemals erschließen lassen. Auch für den Arbeitsmarktzugang sind sie sehr wichtig angesichts der sehr komplexen Regelungen und der Tatsache, dass sich viele Kontakte zu Betrieben eher informell, also über Pat:innen ergeben.
Wie wird sich das Thema in den nächsten Jahren perspektivisch entwickeln?
Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels gibt es eine gewisse Chance, dass die Bemühungen um den Arbeitsmarktzugang von Schutzsuchenden sich weiter verstärken und bürokratische Hürden abgebaut werden. Das genannte Beispiel der Menschen, die um 2015 in die Bundesrepublik kamen, zeigt, dass es ein paar Jahre braucht, dann aber die Erwerbsraten sich als hoch erweisen können. Weniger bürokratischen Hürden würden einen Beitrag dazu leisten, diese Zeit zu verkürzen. Vor allem muss mehr Wert auf die Arbeitsmarktbeteiligung von schutzsuchenden Frauen gelegt werden, hier ist insbesondere die Frage der Betreuung von kleinen Kindern weiterhin eine sehr große Herausforderung, auch im Vergleich zu anderen Ländern.
Was würden Sie sich als Migrationsforscher von allen Beteiligten wünschen?
Es wäre schon sehr viel gewonnen, wenn die Erfolge der Arbeitsmarktintegration verstärkt in die Diskussion kämen und nicht die Skandalisierung im Vordergrund stünde.



Videoserie
FACH. KRAFT. MENSCH.
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